LEO-Kolumne im November: Bittersüße Zeitreisen | Weiden24

06.11.2024
LEO-Autorin Julia Hammer wird in ihre Kindheit zurückversetzt. (Bild: Sara Neidhardt)
LEO-Autorin Julia Hammer wird in ihre Kindheit zurückversetzt. (Bild: Sara Neidhardt)
LEO-Autorin Julia Hammer wird in ihre Kindheit zurückversetzt. (Bild: Sara Neidhardt)
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LEO-Autorin Julia Hammer wird in ihre Kindheit zurückversetzt. (Bild: Sara Neidhardt)

LEO-Kolumne im November: Bittersüße Zeitreisen

Es passiert völlig unerwartet: Wir stehen nach einem langen Arbeitstag mit einer noch längeren Liste im Supermarkt, greifen nach unseren Einkäufen und plötzlich fällt unser Blick auf eine kleine, unscheinbare Verpackung.

Dort, zwischen all den modernen Snacks und Proteinriegeln, liegt er – ein Schokoriegel, den wir seit unserer Kindheit nicht mehr gesehen haben. Schon werden wir in eine andere Zeit katapultiert – und fühlen uns wieder wie Kinder. Es gibt viele solcher Situationen. Schöne Zeitreisen – die allerdings auch bittere Seiten haben.

Das Phänomen, als Erwachsener schlagartig in die eigene Kindheit zurückversetzt zu werden, ist vielen von uns vertraut. Es kann ein bestimmtes Lied sein, ein altes Comicheft, das wir zufällig in einer Kiste auf dem Dachboden finden, oder eine schon lange vergessene Fernsehserie, die plötzlich im Streaming-Dienst auftaucht. Ein einziges kleines Detail und schon fühlen wir uns wieder wie ein Kind – sorglos, neugierig und voll ungebremster Begeisterung für die kleinen Dinge im Leben. Doch warum sind solche Momente wunderschön und gleichzeitig so oft enttäuschend?

Als Kinder nehmen wir die Welt ganz anders wahr als heute. Wir erleben jeden Tag intensiv, alles scheint neu, aufregend und voller Möglichkeiten. Kommen wir zurück zu unserem Supermarkt-Beispiel. Wir sind nicht mehr Mitte 30, sondern werden wieder zu unserem sechsjährigen Ich. Wir stehen an der Kasse mit unserem Taschengeld und können es nicht erwarten, endlich die Verpackung von der Süßigkeit zu reißen und hineinzubeißen. Ein einfacher Schokoriegel – unser Tageshighlight. Das Leben ist in der Kindheit oft wie ein nie enden wollendes Fest für die Sinne. Die Erinnerungen daran: tief in uns verankert. Wenn wir als Erwachsene auf etwas stoßen, das uns an diese Zeit erinnert, werden genau diese Sinne wieder angesprochen. Wir riechen den Duft des Sommernachmittags, an dem wir das erste Mal diesen Riegel gegessen haben. Wir hören das Lachen unserer Freunde, als wir uns gemeinsam auf den Spielplatz stürzten. Und wir spüren die kindliche Aufregung, die mit jedem kleinen Abenteuer verbunden war. Eine emotionale Zeitmaschine, die eine Mischung aus Nostalgie, Glück und Sehnsucht in uns auslöst. Sie erinnert uns daran, wie leicht das Leben einmal war, wie frei wir uns gefühlt haben.

Doch wie bei allem, was mit Erinnerung zu tun hat, kann die Realität oft nicht standhalten. Warum? Weil wir in der Kindheit durch eine rosarote Brille sehen. Vor kurzem habe ich einige Bücher einer unheimlichen Buchreihe gefunden, die ich als Kind geliebt, ja verschlungen habe. Etwas später liege ich auf meinem Sofa und kann es nicht erwarten, die Ausgabe „Der unheimliche Vergnügungspark“ zu lesen. Ich fange an – und lege sie nach zehn Seiten wieder weg. Nein, die Geschichte, die Sprache – es hat mich einfach nicht mehr gepackt. Ähnlich ging es mir, als ich eine Serie wiederentdeckt habe, die ich als Kind so sehr mochte. Ich habe sie nach ein paar Minuten wieder ausgestellt. Jagen wir diesen Erinnerungen in der Gegenwart nach, endet das oft enttäuschend. Der Grund: Wir haben als Erwachsene gelernt, die Welt anders wahrzunehmen. Haben viele neue Erfahrungen gemacht. Unser Geschmack hat sich verändert – genauso wie unsere Interessen. Was uns früher begeisterte, wirkt heute oft banal – auch wenn wir uns so sehr wünschen, die gleiche Euphorie wie damals zu spüren. Die Erinnerung an die Kindheit ist so positiv und stark, dass es für die Realität beinahe unmöglich ist, mit ihr mitzuhalten.

Es ist verlockend, in nostalgischen Momenten die Dinge aus der Kindheit noch einmal erleben zu wollen. Aber vielleicht sollten wir nicht alles wieder „testen“. Denn oft ist die Erinnerung wertvoller als die tatsächliche Erfahrung – und genau diese Erinnerungen sollten wir nicht entzaubern. Wenn ich irgendwann nochmal ein Buch aus meiner Kindheit entdecke, werde ich es nicht öffnen. Den Schokoriegel im Supermarkt, den ich früher so geliebt habe, werde ich liegen lassen. Ich werde mich an meinen Erinnerungen erfreuen und mich kurz wieder wie ein Kind fühlen. Denn genau darum geht es – die Gefühle, die damit verbunden sind: die Unbeschwertheit, die Freude am Kleinen und die grenzenlose Fantasie.

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